Kreatives Texten oder Auswege aus der Fertigsatzbau-Falle
Die Angst vor dem weißen Blatt ist ein Witz. Solange ich vor dem leeren Bildschirm sitze, bin ich mir meines Ungenügens immerhin noch bewusst. Einen fertigen Text aber, den ich mir mühsam abgerungen habe, grundlegend (selbst-)kritisch zu überarbeiten, ist ein fast unmenschliches Unterfangen.
Ein bisschen weniger pathetisch: Ich maile meinen Artikelentwurf an die Redakteurin der Mitarbeiterzeitung eines Kunden. „Schon schön“, kommt zurück, „aber wir haben uns das anders vorgestellt. Kürzer und irgendwie auch mehr sexy.“ Na, danke! Bin ich die Bildzeitung? Das Thema ist nicht sexy, wieso muss mein Text es sein?
Die Situation ist maximal undankbar. Ich habe einen sorgfältig recherchierten und liebevoll formulierten Text. Zu diesem muss ich mich soweit in Distanz bringen, dass meine Überarbeitung tatsächlich etwas nennenswert Neues produziert. So viel Selbstverleugnung tut weh. Dass die Rentabilität des pauschal verhandelten Auftrags nebenbei um 50 Prozent dezimiert wurde, ist auch nicht wirklich motivierend.
Schriftsteller brauchen Stil. Texter brauchen Stile.
Die skizzierte Herausforderung lässt sich verallgemeinern. Schreiben ist grundsätzlich eine schöpferische Tätigkeit. Aus einem weißen Blatt und einem mehr oder weniger großen Haufen Infos wird ein Text. Die möglichen Varianten dieses Textes sind unzählig. Das beginnt mit der Vielfalt der Textsorten: vom knappen Tweet zum Fachartikel. Innerhalb dieser Textsorten eröffnen individuelle Stile eine weitere Dimension der Variation.
Nicht nur schöpferisch, sondern im virtuosen Sinne kreativ ist mein Texten dann, wenn ich bei der Wahl des Stils frei auf ein großes Spektrum zurückgreifen kann. Handwerkliche Sicherheit bei der Unterscheidung der Textsorten ist dabei unterstellt. Diese stilistische Virtuosität trifft man bei uns Textern nicht so häufig. Bei Designern unterstellt man sie als notwendige professionelle Kompetenz. Stilautonomie wird mir helfen, Resonanz bei meiner Zielgruppe zu erzeugen – seien es direkt Leser oder erst mal Redakteure. Beispielsweise bei einer Pressenotiz, die ich zum selben Sachverhalt an unterschiedliche Medien deutlich variiert versende. Mainzer Allgemeine versus Vice Magazine.
Doch auch in einem redaktionellen Umfeld, in dem ich mit meinem Durchschnittsstil sicher etabliert bin, lohnt sich das Stilexperiment. Das bewusste Durchbrechen der Stilerwartung wird meinem Text zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffen. Dem leidenschaftlichen Erlebnisbericht sind im Maschinenbauer-Blog die Klicks sicher.
Das Problem, den fertigen Text grundsätzlich zu überarbeiten, stellt sich also eigentlich immer und schon zu Beginn jedes Schreibprozesses. Ich kämpfe mit meinen Stilgewohnheiten. Das Blatt mag noch weiß sein. In meinem Sprachrepertoire liegen die vertrauten Vokabeln und Wendungen ganz oben griffbereit. Um nicht in die Falle des Fertigsatzbaus zu tappen, hilft nur eins: nicht einfach losschreiben!
Anders gesagt: Schriftsteller brauchen Stil. Texter brauchen Stile. Das ist zugleich die Kluft zwischen Kunst und Design. Der Künstler muss es so machen, wie er es machen muss. Der Designer muss es schon so machen können, wie es die optimale (ökonomische) Wirkung erzielt.
Variation ohne Selbstentfremdung
Stilvariation, dass ich nicht lache. Nichts Schlimmeres als der nicht authentische Stil. Der Ü40-Hipster versucht sich in Jugendsprache. Not nice. Stil ist erstens eine Frage der Persönlichkeit und von der hat man höchstens eine. Der Stil steht zweitens in Abhängigkeit zum Thema und meiner Vertrautheit mit dem Thema. Die Grenzen seriöser Stilvariation sind eng gesteckt.
Stimmt und stimmt nicht. Es geht bei Stilvariation nicht um die Imitation der Sprechweisen fremder Gruppen. Es geht um das erstaunlich effektvolle Spiel in Kategorien wie zum Beispiel
- ausführlich – verkürzend
- verbal – nominal
- explizit – implizit
- abstrakt – bildlich
- objektiv – subjektiv
- konventionell – überraschend
Und es geht um mehr oder weniger handwerkliche Parameter wie Wortstellung, Satzlänge, Negationen.
In dem ich mich bei der Gestaltung dieser stilistischen Ausprägungen bewusst und frei entscheide, erhöhe ich das Spektrum der möglichen Wirkung meiner Texte erheblich. Manchmal reicht dabei die bloße sprachliche Bearbeitung meines Materials nicht aus. Um subjektive Aspekte in einen Text zu integrieren, muss ich schon bei der Recherche geeignete Fragen stellen.
Keine Musen, aber Sparring-Partner
Es geht also „nur“ um Variationen in den oben genannten Kategorien. Dennoch springen wir schwerer über unseren Schatten, als wir denken. Insbesondere wenn Zeitdruck den Stress erhöht. Was hilft uns dabei? Wir selbst und die anderen!
Zunächst zu uns selbst. Versuchen wir uns eine gewisse Leichtigkeit beim professionellen Texten zu bewahren. Dazu hilft folgende Einstellung:
Wir dürfen dem Leser vertrauen. Er wird uns verstehen, auch wenn wir Details weglassen. Er wird seine objektiven Interessen wiederfinden, auch wenn wir Subjektives berichten. Er wird die Fakten finden, auch wenn wir Bilder beschreiben. Und bei alle dem gilt: Ein missverständlicher Text birgt immer noch mehr Chancen als einer, der nicht gelesen wird.
Wie nun, sollen uns die anderen helfen? Die befreiende Distanz zu einem Stoff oder vorhandenen Text ist bei einem Kollegen, den wir während des Prozess des Textens zwischenzeitlich hinzuziehen, natürlich gegeben. Die sprachlichen Alternativen sollten ihm freier und schneller zur Hand sein. Warum also nicht …
- Relevante Texte zusammen schreiben
Wenn es das Budget erlaubt, erstelle ich eine erste Fassung eines Texts, übergebe diese dann zur freien Bearbeitung an einen Kollegen. Stilistisch ist ihm alles erlaubt. Damit wir dabei nicht stille Post spielen, bekomme ich den Text zur Endredaktion zurück. - Sprache zu Text Briefing
Einen nicht zu umfangreichen Beitrag, den ich mir gedanklich zurechtgelegt habe, berichte ich mündlich an einen Kollegen. Erst dieser macht daraus einen Text. - Trainieren, gerne auch mit Sparring-Partner
Projektdruck und Kreativität vertragen sich nicht immer. Daher Stilübungen an zeitlich unkritischen Texten oder reinen Übungstexten durchführen. Nach genügend Kür klappt’s dann auch in der Pflicht.
Texten ist und bleibt in Teilen ein einsames Geschäft. Anders als der Dichter brauchen wir Texter auch keine inspirierende Musen. Ein gutes Briefing ist besser. Aber wir können Sparringspartner brauchen. Stile werden durch kollegiale Reflexion erst richtig sicher.